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Gedenktafel des Denkmals für die Opfer des Nationalsozialismus der Stiftung Attl, eingeweiht 1994. | © (Fotograf unbekannt, Archiv des DiCV München und Freising e.V., Fotosammlung)

Zwangssterilisation und Krankenmord

NS-Krankenmord an Bewohnerinnen und Bewohnern katholischer Heil- und Pflegeeinrichtungen

Zum politischen Programm des NS-Unrechtssystems gehörte die Verfolgung und sogenannte „Ausmerzung lebensunwerten Lebens“. Die nationalsozialistische Eugenik und sogenannte „Rassenhygiene“ hatte bereits Wurzeln in der Zeit vor 1933. Mit dem Erlass des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses im Juli 1933 wurde aus früheren Planungen dann bittere Realität. Damit erklärte der Gesetzgeber Menschen mit bestimmten chronischen Erkrankungen und Behinderungen, sogenannte Erbkranke, als meldepflichtig. Diese Personengruppen sollten künftig sterilisiert werden. Während der NS-Zeit wurden etwa 400.000 Menschen zwangssterilisiert und zahlreiche Zwangsabtreibungen von Ärzten vorgenommen.[1]

Die beiden Kirchen hatten sich prinzipiell als nicht immun gegenüber den eugenischen und rassenhygienischen Positionen erwiesen, die die sozialpolitische Diskussion der 1920er und frühen 1930er Jahre zunehmend prägten.[2] Allerdings war die ablehnende Haltung der Katholischen Kirche gegenüber der staatlich verordneten Sterilisation und Abtreibungen bereits mit der päpstlichen Enzyklika „Casti Conubii“ von 1930 klar gefasst worden.[3]

Die Tötungsmaschinerie war spätestens mit dem sogenannten Euthanasie-Erlass Hitlers im Oktober 1939 angelaufen. In den Heil- und Pflegeanstalten begann der staatlich gelenkte NS-Krankenmord mit der sogenannten „Aktion T4“. Staatliche Stellen bereiteten gemeinsam mit Akteuren aus der Medizin und Krankenpflege die Erfassung der Opfer in den Anstalten und deren systematische Ermordung vor. Über Leben und Tod entschieden die medizinischen „Gutachter“ der sogenannten T4-Zentrale in Berlin. Die Auswahl der zu verlegenden Bewohnerinnen und Bewohner erfolgte mittels Meldebögen, welche die Pflegeanstalten über ihre Insassen ausfüllen mussten. Auf dieser Basis wurden in den Jahren 1940/41 von den Innenministerien und zuständigen Landesfürsorgeverbänden massenhafte „Verlegungen“ veranlasst.[4]

In den berüchtigten Bussen der T4-Tarnorganisation "Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft" oder per Auto wurden die Bewohnerinnen und -Bewohner seit Januar 1940 in öffentliche Heil- und Pflegeanstalten verbracht. In Bayern waren das v. a. die Anstalten in Eglfing-Haar und Kaufbeuren. Von dort wurden sie in die T4-Tötungsanstalten deportiert. In Bayern wurden die T4-Opfer vor allem in die Tötungsanstalt Grafeneck und später nach Hartheim bei Linz verschleppt und hier in den Gaskammern ermordet. Insgesamt wurden im Rahmen der Aktion T4 fast 7.700 Anstaltspatienten in Bayern ermordet, etwa 1.700 von ihnen aus den konfessionellen Einrichtungen.[5]

Die Leitungen der katholischen Anstalten, das Pflegepersonal und auch die Wohlfahrtsverbände bekamen die verbrecherischen Vorgänge schrittweise mit. Oftmals hatten schon die in den Meldebögen gestellten Fragen misstrauisch gestimmt. Nach dem Beginn der Abtransporte gaben früh betroffene Einrichtungen ihr Wissen im Geheimen an andere Einrichtungen weiter. Schließlich war schnell mitzubekommen, dass auffällig viele Pfleglinge bald nach der Verlegung als verstorben gemeldet wurden.[6]

Die Haltung der katholischen Kirche gegenüber der NS-„Euthanasie“ war ablehnend. Mehrere Bischöfe wandten sich seit Mitte 1940 u. a. an das Reichsinnenministerium, um sich gegen die Verlegungen auszusprechen, darunter auch der Münchner Erzbischof Michael Kardinal von Faulhaber. Erzbischof Gröber als zuständiger Caritasbischof unterbreitete am 1. August 1940 dem Leiter der Reichskanzlei, Reichsminister Lammers, das Angebot „auf karitativem Wege für alle die Kosten aufzukommen, die dem Staat durch die Pflege der zum Tode bestimmten Geisteskranken erwachsen“, um eine Umkehr zu erwirken. Doch alle Vorstöße waren ohne Effekt. Obwohl die Verlegungen in die T4-Tötungsanstalten ununterbrochen weiterliefen, blieb ein öffentlicher Widerspruch der Kirche gegen die NS-„Euthanasie“-Morde vorerst aus.[7] Ende August 1940 beschloss die Bischofskonferenz, dass es katholischen Pflegeanstalten untersagt sei, „zwecks Vernichtung sogen. lebensunwerten Lebens“, wie es hieß, „aktiv bei der Verbringung ihrer Insassen mitzuwirken."[8]

Prinzipiell standen die katholischen Anstalten den Transporten machtlos gegenüber. Letztendlich hatten sie den Anweisungen der Behörden Folge zu leisten und für einen reibungslosen Abtransport der selektierten Bewohnerinnen und Bewohner zu sorgen, die ihr tödliches Schicksal zunehmend erahnten. Zugleich gibt es zahlreiche Beispiele für unterschiedliche Formen des Rettungsversuchs durch die Leitungen und das Pflegepersonal in den katholischen Anstalten. Man versuchte zumindest einen Teil der Schützlinge durch die vorzeitige Entlassung in die Familien, durch die Unterbringung auf dem Lande oder Beschäftigung in der eigenen Landwirtschaft sowie durch das Manipulieren von Meldelisten und Akten vor der Ermordung zu bewahren.[9]

Für den Diözesan-Caritasverband, der in seiner Rolle als Spitzenverband für mehrere hundert angeschlossene Einrichtungen verantwortlich war, ist keine systematische Gegenwehr gegen die Aktion T4 überliefert.[10] Als Hintergrund dieser Zurückhaltung ist das noch bis 1941 währende öffentliche Schweigen des Episkopats und die Sorge vor weiteren Beschlagnahmungen während des Krieges zu vermuten. Öffentlicher Druck entstand erstmals nach der Predigt des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen, im August 1941, der die Tötungen an Kranken und Menschen mit Behinderungen vehement als Verbrechen anprangerte. Die Massentötungen wurden kurz darauf, nach über einem Jahr Laufzeit, auf Weisung Hitlers ausgesetzt.[11]

Der NS-Krankenmord ging trotzdem noch bis Kriegsende weiter, dezentral sowie im Rahmen der sogenannten „Kindereuthanasie“. 1942/43 erfassten die Behörden erneut Anstaltspatienten per Meldebogen. Zurecht fürchteten die katholischen Anstalten die Wiederaufnahme der Deportationen.  Im Rahmen der sogenannten „dezentralen Euthanasie“ wurde die Ermordung von Menschen mit Behinderungen und Erkrankungen inzwischen parallel in verschiedenen öffentlichen Anstalten fortgesetzt, u. a. in Eglfing-Haar und Kaufbeuren. Ärzte und Pflegepersonal in diesen Anstalten ließen die Insassen, gedeckt durch den „Hungerkosterlass“ des Bayerischen Innenministeriums von 30. November 1942, gezielt und qualvoll verhungern oder verabreichten Medikamente in tödlichen Überdosen. Bis 1945 fielen in Deutschland 90.000 Personen der sogenannten „dezentralen Euthanasie“ zum Opfer. Auch aus den katholischen Anstalten in der Erzdiözese München und Freising wurden erneut hunderte Bewohnerinnen und Bewohner in staatliche Anstalten verlegt und dort ermordet. Auch die 1939 begonnene Ermordung von Kindern und Jugendlichen in sogenannten Kinderfachabteilungen wurde in Deutschland fortgeführt.[12]

Für die katholischen Einrichtungen im Gebiet der Erzdiözese München und Freising und des Diözesan-Caritasverbands liegt keine systematische Untersuchung über die Zwangssterilisierungen von Befürsorgten und Pfleglingen vor. Ebenso wenig ist der NS-Krankenmord in den katholischen Einrichtungen im Einflussbereich der Erzdiözese München und Freising und des Diözesan-Caritasverbands umfassend und systematisch untersucht, auch wenn Einzeluntersuchungen zu spezifischen Einrichtungen vorliegen. Insbesondere steht eine Untersuchung der Rolle des Erzbistums und des Diözesan-Caritasverbands anhand von Archivmaterial noch aus.

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[1] Allein über das Gesundheitsamt München wurden insgesamt 2.973 Anträge zur Zwangssterilisation von Münchner Bürgerinnen und Bürgern beim Erbgesundheitsgericht München eingereicht. Hiervon wurden 86,5 Prozent bewilligt. Entsprechende Verfahren wurden auf der Grundlage einzelner Meldungen, etwa aus der Fürsorge oder aus den Heil- und Pflegeanstalten, von den öffentlichen Gesundheitsämtern eingeleitet. Die oftmals gefährlichen Eingriffe wurden dann auf Beschluss der neu eingerichteten Erbgesundheitsgerichte vor allem in den Krankenhäusern oder in den Anstalten selbst durchgeführt. Hohendorf, Gerrit/Eberle, Annette: Zwangssterilisation und Patientenmorde im Nationalsozialismus – ein Überblick, in: Eberle, Annette; Hohendorf, Gerrit; von Cranach, Michael; von Tiedemann, Sibylle (Hrsg.): Gedenkbuch für die Münchner Opfer der nationalsozialistischen "Euthanasie"-Morde, Göttingen 2018,  S. 29-48, hier S. 29, S. 35; Eder, Manfred: Helfen macht nicht ärmer. Von der kirchlichen Armenfürsorge zur modernen Caritas in Bayern, Altötting 1997, S. 451.

[2] Richter, Ingrid: Katholizismus und Eugenik in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Zwischen Sittlichkeit und Rassenhygiene, Paderborn u. a. 2001.

[3] Reimer, Klaus: Von der katholischen Armenfürsorge zum Unternehmen Nächstenliebe. Geschichte des Caritasverbandes Frankfurts. Ein Beitrag zur Frankfurter Sozialgeschichte, Göttingen 2019; Reimer: Von der katholischen Armenfürsorge, S. 252; Süß, Winfried: Die katholische Kirche, Bischof von Galen und die 'Euthanasie' - Neun Thesen, in: Sirl, /Pfister: Die Assoziationsanstalt Schönbrunn, S. 15-41, hier S. 19.

[4] Der NS-Krankenmord umfasste neben der Aktion T4 auch die sogenannte „Kindereuthanasie“, in deren Rahmen seit 1939 nach Kindern mit schweren Behinderungen und Erkrankungen gefahndet wurden und diese in speziellen Kinderfachabteilungen ermordet wurden. Gesteuert wurden diese Verbrechen von einem hierzu in der Reichskanzlei aus medizinischen Experten gebildeten Reichsausschuss. Auch Psychiatriepatienten im besetzten Ausland und KZ-Häftlinge wurden, in gesonderten „Aktionen“, Opfer des NS-Krankenmords. Vgl. zu den Vorbedingungen, Vorbereitungen und Ausführungen des NS-Krankenmords mit Schwerpunkt auf Bayern: Hohendorf, Gerrit: Euthanasie im Nationalsozialismus – Historischer Kontext und Handlungsspielräume, in: Sirl, M. Benigna/Pfister, Peter (Hrsg.): Die Assoziationsanstalt Schönbrunn und das nationalsozialistische Euthanasie-Programm (= Schriften des Archivs des Erzbistums München und Freising, Bd. 15), Augsburg 2011, S. 53-82. Siehe zum Forschungsstand zur Aktion T4: Rotzoll, Maike; Hohendorf, Gerrit; Fuchs, Petra; Richter, Paul; Mundt, Christoph (Hrsg.): Die nationalsozialistische "Euthanasie"-Aktion 'T4' und ihre Opfer. Geschichte und Ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn u. a. 2010 sowie Cranach, Michael von u.a. (Hrsg.): Gedenkbuch für die Münchner Opfer der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Morde, Göttingen 2018. Vgl. grundlegend Klee, Ernst: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt a. M. 1985.

[5] Siehe Hohendorf: Euthanasie, S. 73 ff., hier auch die Zahlenangaben. Siehe zur NS-Euthanasie in den katholischen Einrichtungen in Bayern, allerdings nicht systematisch, sondern beispielhaft: Eder: Helfen, S. 449-479.

[6] Wollasch, Hans-Josef: Caritas und Euthanasie im Dritten Reich. Staatliche Lebensvernichtung in katholischen Heil- und Pflegeanstalten 1936 bis 1945, in: ders.: Beiträge zur Geschichte der deutschen Caritas in der Zeit der Weltkriege. Zum 100. Geburtstag von Benedict Kreutz (1879-1949), hrsg. v. Deutschen Caritasverband e. V., Freiburg i. B. 1978, S. 208-224, hier S. 218 f.

[7] Ebd., S. 214-220; Reimer, Klaus: Von der katholischen Armenfürsorge zum Unternehmen Nächstenliebe. Geschichte des Caritasverbandes Frankfurts. Ein Beitrag zur Frankfurter Sozialgeschichte, Göttingen 2019, S. 257; Süß: Die katholische Kirche, S. 24, S. 26.

[8] Auszug aus dem Protokoll der Fuldaer Bischofskonferenz v. 20.-22.8.1940, in: ADCV 732.27, zit. n. Süß: Die katholische Kirche, S. 24; Reimer: Von der katholischen Armenfürsorge, S. 256.

[9] Siehe verschiedene Beispiele bei Wollasch: Caritas und Euthanasie, S. 220-224.

[10] Vliet, Valery van: Caritas im Zeitalter der 'Volkspflege' - eine Herausforderung für die Pädagogik und ihre historische Verortung, Diss. LMU München 2013, S. 157.

[11] Maschinengeschriebene Kopie (Eicheler Archiv), zit. n. Reimer: Von der katholischen Armenfürsorge, S. 257; Süß: Die katholische Kirche, S. 32, S. 41. Siehe insgesamt auch Wollasch: Caritas und Euthanasie, hier v.a. S. 214-217.

[12] Vgl. zu den verschiedenen Etappen der NS-Krankenmorde die Beiträge unter „Historische Einführung“, in: Cranach u.a.: Gedenkbuch, S. 29-168.