Kontakt
 Oskar Jandl (Mitte, in Uniform), von 1938 bis 1962 Direktor des Diözesan-Caritasverbands, wurde zur Sanitäts-Ersatz Abteilung 7 der Wehrmacht einberufen. Links vermutlich: Michael Gasteiger, u.a. Kommunalpolitiker, seit 1931(?) bis Kriegsende beim Diözesan-Caritasverband für Pressewesen, Statistik und Archiv tätig. Rechts Schwester Hiltraut, Leiterin der Kindererholung. Vermerk: „Der Letze Tag in Miesbach“, 1941.  | © (Fotograf unbekannt, Archiv des DiCV München und Freising e. V., Fotosammlung)

Leben und Arbeiten mit Restriktionen und Bedrohung

Der Caritasverband der Erzdiözese München und Freising e. V. und das Wohlfahrtssystem in der NS-Zeit

1933 repräsentierte der Diözesan-Caritasverband in München nicht weniger als 80 karitative Vereine und Orden.[1] Für das Jahr 1936 ist bekannt, dass 25 hauptamtliche und ständige ehrenamtliche Helfer direkt für den Verband tätig waren, der Umfang der angeschlossenen Einrichtungen und des hier entsprechend beschäftigten Personals war aber weitaus größer: Es gab 377 karitative Einrichtungen und Anstalten mit über 23.000 Plätzen für hilfsbedürftige Menschen. Hinzu kamen 195 Speisungsstellen, mehr als 100 katholische Müttervereine sowie 300 Pfarrcaritas-Ausschüsse.[2]

Auf bestimmten Gebieten konnte sich die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) bald klar durchsetzen, etwa in der Winterhilfe sowie im traditionell konfessionellen Bahnhofsmissionswesen.[3] Eine reichsweite Kampagne richtete sich besonders gegen die katholischen Orden. Katholische Schwestern wurden aus den städtischen Kindergärten entfernt. NSV sowie Staat und Kommunen verdrängten systematisch die konfessionellen Träger aus dem Feld der Kindererziehung. Zahlreiche Kindergärten, Horte und ähnliche Einrichtungen wurden geschlossen oder von nichtkonfessionellen Trägern übernommen. Die angestrebte „Entkonfessionalisierung“ des Erziehungssektors konnte aber nicht abgeschlossen werden.[4] In der Obdachlosen- und Gefährdetenfürsorge scheiterten die Ausschaltungsbestrebungen hingegen größtenteils, und gerade im Altenpflegebereich blieb die konfessionelle Wohlfahrtspflege in München mit ca. einem Drittel der Einrichtungen eine bedeutende Kraft.[5]

Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde die Offensive gegen konfessionelle Einrichtungen fortgesetzt. Insgesamt wurden in den Kriegsjahren 99 Anstalten, Heime und weitere karitative Einrichtungen der Erzdiözese München und Freising aufgelöst, verboten oder – für kriegsbedingte Nutzungen – beschlagnahmt.[6] Zahlreiche Klöster und Anstalten wurden in Lazarette sowie in Hilfs- und Ausweichkrankenhäuser umfunktioniert, die aber weiterhin durch die katholischen Träger betrieben wurden. Die strategische Bedeutung jener Einrichtungen wuchs, und die konfessionellen Verbände behielten ihre wichtige Stellung. An die von der NS-Propaganda angestrebte Entkonfessionalisierung der sozialen Arbeit war in der Praxis nicht zu denken, auch personell nicht. So wurden katholische Ordensschwestern in der Erzdiözese nicht nur für den Reichsarbeitsdienst verpflichtet, sondern konnten auch bei der Aufrechterhaltung von Krankenhausbetrieb und Lazaretten nicht ersetzt werden.[7]

Aufgrund der bleibend wichtigen Rolle konfessioneller Einrichtungen waren diese in verschiedenen Feldern in die NS-Unrechtspolitik stark eingebunden. Katholische Akteure trugen bei den menschenverachtenden Zwangssterilisierungsmaßnahmen, die die Nationalsozialisten 1933 mit dem „Gesetz zur Verhütung erbranken Nachwuchses“ anordneten, und bei den seit 1939 unter der Ägide staatlicher Instanzen durchgeführten barbarischen NS-Krankenmorden („Euthanasie“) auch eine Mitverantwortung. Besonders schwer wiegt, dass man nicht mit letzter Konsequenz versucht hat, dies zu verhindern.[8]

Nach dem Novemberpogrom 1938 waren außerdem die antisemitischen Bestimmungen deutlich verschärft worden und der Fürsorgesektor war hiervon deutlich betroffen. Jüdische Fürsorgeempfängerinnen und -empfänger und ebenso die sog. „katholischen Nichtarier“ wurden aus der öffentlichen Fürsorge ausgeschlossen und ausschließlich der jüdischen freien Wohlfahrtspflege zugewiesen. Auch der Deutsche Caritasverband richtete sich nach diesen Vorgaben.[9]

In München waren Diözesan-Caritasverband und Innere Mission noch bis Kriegsende in den städtischen Wohlfahrtsgremien vertreten. Im Zuge ihrer starken Einbindung bildeten die konfessionellen Akteure für die völkische Wohlfahrtspolitik in München eine wichtige Ressource.[10] Auf struktureller Ebene ergab sich so eine Mitwirkung an der NS-Sozialpolitik.

Die Caritasverbände operierten in den Jahren von 1933 bis 1945 innerhalb des Widerspruchs, sich einerseits der neuen, gesetzlich sanktionierten Ausrichtung der Wohlfahrt anpassen zu müssen, u. a. um den eigenen verbandlichen Einfluss zu erhalten, und andererseits unter Ausnutzung bestehender Handlungsspielräume die eigenen christlichen Werte, die der NS-Unrechtsideologie widersprachen, innerhalb der katholischen Einrichtungen weiter praktizieren zu wollen.

Die Geschichte des Diözesan-Caritasverbands in dieser Zeit bleibt ein schwieriges, von Ambivalenzen geprägtes Kapitel. Es gab Sorge um die anvertrauten Menschen und Hilfe für Verfolgte. Angehörige des Diözesan-Caritasverbands retteten Menschenleben aktiv vor dem Zugriff der NS-Schergen. Gleichzeitig gab es Verstrickungen in die NS-Unrechtspolitik.

------------

[1] Zu den Angaben im Teaser: Wimmer, Florian: Die völkische Ordnung von Armut. Kommunale Sozialpolitik im nationalsozialistischen München, Göttingen 2014, S. 154; vgl. zur Zeit vor 1933 Rudloff, Wilfried: Konkurrenz, Kooperation, Korporatismus. Wohlfahrtsvereine und Wohlfahrtsverbände in München 1900-1933, in: Wollasch, Andreas (Hrsg.): Wohlfahrtspflege in der Region. Westfalen-Lippe während des 19. Und 20. Jahrhunderts im historischen Vergleich, Paderborn 1997, S. 165-190, hier S. 176 ff.; Wimmer: Völkische Ordnung, S. 164 f.

[2] Eder, Manfred: Helfen macht nicht ärmer. Von der kirchlichen Armenfürsorge zur modernen Caritas in Bayern, Altötting 1997, S. 426.

[3] Wimmer: Völkische Ordnung, S. 161 f.

[4] Berger, Manfred: Der Kindergarten im Nationalsozialismus. ‚Drum beten wir deutschen Kinder: Den Führer erhalte uns Gott‘. Ein Beitrag zur Geschichte der öffentlichen Kleinkinder-/Kindergartenpädagogik in den Jahren 1933 bis 1945, Göttingen 2018, S. 11, S. 20 f., S. 28-42. Vgl. zum Vorgehen gegen das katholische Schwesternwesen und die Entkonfessionalisierungspolitik auf Einrichtungsebene: Sachße, Christoph/ Tennstedt, Florian: Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus. (= Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland; Bd. 3), Stuttgart 1992, S. 139-141.

[5] Wimmer: Völkische Ordnung, S. 160, S. 167 f.

[6] Eder: Helfen, S. 426, S. 428; zur Zurückdrängung der Caritas aus der Vorschulerziehung sowie aus der Hort- und Heimerziehung vgl. van Vliet, Valery: Caritas im Zeitalter der 'Volkspflege' - eine Herausforderung für die Pädagogik und ihre historische Verortung, Diss. LMU München 213, S. 125-147.

[7] Eder: Helfen, S. 487-491; Wimmer: Völkische Ordnung, S. 163 f. Allgemein: Sachße/Tennstedt: Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus, S. 142.

[8] Ein trauriges Beispiel für einen vergeblichen Kampf um ein Opfer einer Zwangssterilisierungsmaßnahme findet sich in den Akten der Altregistratur, Archiv des DiCV München und Freising e. V., AR 744: zahlreiche Einwendungen der Einrichtung, des Caritasdirektors und der Eltern, sowie ein organisierter Fluchtversuch konnten den jungen Mann nicht retten.

[9] Vgl. zu Letzterem einen Hinweis in: Schönlebe, Dirk: München im Netzwerk der Hilfe für 'nichtarische' Christen (1938-1941). Schriftliche Hausarbeit zur Erlangung des akademischen Grades des Magister Artium, http://www.landesbischof-meiser.de/downloads/Hilfe.pdf, hier S. 102 sowie Referat Bernings über den Hilfsausschuss, 24. August 1938, in: Volk, Ludwig: Akten Deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche IV 1936-1939, Mainz 1981, hier S. 687. Personen jüdischen Hintergrunds wurden durch die „Verordnung des Reichsministers des Innern, des Reichsarbeitsministers und des Reichsministers der Finanzen über die öffentliche Fürsorge für Juden“ vom 19. November 1938 mit Wirkung zum 1. Januar 1939 aus der öffentlichen Fürsorge ausgeschlossen. Die Verordnung sah vor, dass Juden vom 1. Januar an durch die jüdische freie Wohlfahrtspflege und nicht mehr durch die öffentliche Fürsorge unterstützt werden sollten. Die Bedürftigkeit war streng zu prüfen. Friedlander: Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997, S. 419 f., S. 424-428; Gruner, Wolf: Öffentliche Wohlfahrt und Judenverfolgung. Wechselwirkung lokaler und zentraler Politik im NS-Staat (1933-1942), München 2002, S. 194.

[10] Wimmer: Völkische Ordnung, S. 164 f., S. 170.