Kontakt
Verteilung von Feuerholz an Bedürftige durch den Münchner Ortsverband, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, 1918. | © KNA Pressebild, Archiv des DiCV München und Freising e.V., Fotosammlung

Die Goldenen Zwanziger?

Krisenbewältigung und neue Armut im ersten Jahrzehnt des Diözesan-Caritasverbands

1300 Portionen Suppe pro Tag waren nicht genug: sechs fahrende Feldküchen versorgten über die Wintermonate 1923/24 auch entlegene Außenbezirke Münchens mit warmen Mahlzeiten, aber es wurde schnell klar, dass ein weiterer Ausbau unumgänglich war.[1] Gerade die bayerische Landeshauptstadt hatte es nach dem ersten Weltkrieg schwer getroffen. Neben der bekannten Armut der Vorkriegszeit waren es nun die „Neuarmen“ – Witwen und Waisen, Kriegsversehrte, Sozialrentner, Kleinunternehmer und Akademiker – die in wachsender Zahl auf die Unterstützung des Diözesan-Caritasverbands angewiesen waren.

------------

[1] Vgl. Jahresbericht 1924 des Caritasverbandes der Erzdiözese München-Freising. AR 115, S. 6.

------------

Diese „neuen Armen“ brachte der Krieg hervor: 1924 gab es 1,7 Millionen Kriegshinterbliebene, 1,5 Millionen Kriegsbeschädigte, dazu 3,1 Millionen Klein- und Sozialrentner, Witwen und Waisen, deren Renten plötzlich nichts mehr wert waren. Die Zahl an Menschen, die öffentlicher und privater Wohlfahrt bedurften, hatte sich 1924 im Vergleich zur Vorkriegszeit vervierfacht.[1] Der Mittelstand wurde hart getroffen. Aus diesem hatte sich ein Großteil der Ehrenamtlichen und Spenderinnen und Spender der Wohlfahrtspflege im Kaiserreich rekrutiert, nun waren sie oftmals selbst auf Hilfe angewiesen und fielen als soziale Träger weg.[2]

München traf es dabei besonders hart. Im Gegensatz zu anderen industrialisierten Großstädten arbeiteten in der Mitte des Jahrzehnts nur ca. 38% der Erwerbstätigen in Industrie und Handwerk. Großbetriebe waren dünn gesät. Rund ein Viertel der arbeitenden Bevölkerung war im Einzelhandel oder in Kleinbetrieben beschäftigt – Branchen, die es in Kriegs- und Inflationszeiten besonders hart traf. Ein ständiger Kampf um das wirtschaftliche Überleben war die Folge, in dem sich viele Berufstätige, die vor dem Krieg ein stabiles, relativ sicheres Auskommen hatten, geschlagen geben mussten.[3] Zu ihnen gesellten sich Klein- und Sozialrentner mit im Zuge der Inflation wertlosem Einkommen, eine breite Masse des Künstlerproletariats sowie eine große Zahl geistiger Arbeiter wie Journalisten und Akademikerinnen.[4]  

Eine „verschämte“ Armut breitete sich aus, gerade Kleinrentnerinnen und Kleinrentner wollten ihre Not oftmals nicht öffentlich machen, weshalb es vor allem die freie Wohlfahrtspflege war, die man in Anspruch nahm – und dabei stand der Diözesan-Caritasverband an vorderster Linie. Die Diözesanverbände der Weimarer Republik entwickelten sich zu kleinen Caritaszentralen mit ausgeprägter Verwaltungsstruktur, die beispielsweise öffentliche Mittel an ihre angeschlossenen caritativen Einrichtungen und Vereine verteilten.[5] Mit etwa 30% aller Fürsorgeeinrichtungen Münchens vertrat oder betrieb der Diözesan-Caritasverband den Löwenanteil der privaten Fürsorgestellen – in der halboffenen Fürsorge besuchten täglich 84% aller Besucherinnen und Besucher Einrichtungen der Caritas. Möglich machte diese Dominanz des katholischen Anstaltswesens nicht zuletzt der günstige Kostenfaktor: Diakonissinnen und Ordenspersonal kannten weder Achtstundentag noch Tarifregelung, wodurch sich die Betriebskosten im Vergleich zu nichtkonfessionellen, nichtkatholischen Einrichtungen im Rahmen hielten. Für die Krankenpflegeorden wurde 1920 errechnet, dass der bayerische Staat mit weltlichen Arbeitskräften für dieselben Dienste wohl das fünffache an Kosten zahlen müsste.[6]

Die so gewonnenen Ersparnisse wurden sinnvoll und auf vielfältige Weise weitergegeben. Der gebeutelte Mittelstand Münchens wurde etwa in vier neugegründeten Mittelstandsküchen versorgt, deren Betriebskosten sich im Jahr 1924 auf ca. 30.000 Mark beliefen.[7] Diese Tagesheime waren tagsüber geöffnet und boten „[…] unentgeltlich ein gutes, kräftiges Essen, nachmittags Kaffee und Brot und untertags geheizte Räume zum Aufenthalt, zu Heimarbeit und sonstiger Beschäftigung.“[8] 1931 wurden im Zuge der Winterhilfe 14 Wärmestuben in München eingerichtet, und Lebensmittelsammlungen in der gesamten Erzdiözese durchgeführt.[9] Nicht nur materielle Güter wurden angeboten, gerade „Neuarme“ suchten die jeweiligen Einrichtungen auf, um sich beraten zu lassen – oder einfach nur ein offenes Ohr für ihre Sorgen zu finden.[10] In Zeiten des Mangels war die seelische Unterstützung etwas, das als Ratio und Wesenskern der freien Wohlfahrtspflege angesehen wurde.[11]

------------

[1] Vgl. Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian. Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871 bis 1929. Stuttgart 1988, S. 81.

[2] Vgl. ebd. 1988, S. 73 ff.

[3] Vgl. Rudloff, Wilfried. Die Wohlfahrtsstadt: Kommunale Ernährungs-, Fürsorge-, und Wohnungspolitik am Beispiel Münchens 1910-1933. Göttingen 1998, S. 42 ff.

[4] Vgl. ebd. 1998, S. 46.

[5] Vgl. Maurer, Catherine. Der Caritasverband zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik: Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des caritativen Katholizismus in Deutschland. Freiburg im Breisgau 2008, S. 176 f.

[6] Vgl. Rudloff 1998, S. 494.

[7] Vgl. Jahresbericht 1924 des Caritasverbands der Erzdiözese München und Freising AR 115, S. 7.

[8] Jahresbericht 1922 des Caritasverbands der Erzdiözese München und Freising. AR 115, S. 6.

[9] Vgl. Hein, Bernd. 1922-1997: 75 Jahre Caritasverband der Erzdiözese München und Freising e. V., S. 36.

[10] Vgl. Caritasverband der Erzdiözese München und Freising: Tätigkeitsbericht für das Jahr 1933 der Beratungsstelle. AR 882, S. 9.

[11] Vgl. Rudloff 1998, S. 492.

Bilder-Galerie