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Das deutsche Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt vom 9. Juli 1922 trat am 1. April 1924 in Kraft und regelte bis 1961 die Jugendwohlfahrt.

Vom Reichsjugendwohlfahrtsgesetz bis zum Bundessozialhilfegesetz

Die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Caritasverband der Erzdiözese München und Freising von 1922 bis Heute

In den ersten Jahren der Weimarer Republik wurde der rechtliche Rahmen für die öffentliche und die freie Wohlfahrtspflege neu abgesteckt.[1] Als bis 1961 maßgebliches Gesetz trat das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) am 1. April 1924 in Kraft. Zum ersten Mal gab es damit eine reichsweit gültige Regelung der Jugendfürsorge, auch wenn die Ausführung Ländersache blieb. Bestimmte Bereiche der Wohlfahrtspflege, die bisher den Ländern und Kommunen oblagen, sollten in einem homogenen Regelkatalog erfasst und vereinheitlicht werden. Mit einher ging die Reichsfürsorgeverordnung (RFV), ebenfalls 1924 verabschiedet. Darin wurde vor allem die Zusammenarbeit bzw. Unabhängigkeit des privaten wie öffentlichen Sektors der Wohlfahrtspflege festgehalten. Besonders wichtig war die Verordnung vor allem deshalb, da dem privaten Wohlfahrtssektor ein Bestandsschutz sowie eine Vorzugsbehandlung gegenüber dem öffentlichen eingeräumt wurde (Subsidiaritätsprinzip).[2] Mit diesen beiden gesetzlichen Vorgaben wurde der Beginn der „dualen“ Wohlfahrtspflege eingeläutet: die Zusammenarbeit öffentlicher und privater Wohlfahrtspflege im Sozial- und Gesundheitswesen, eine Struktur, die das deutsche System der Wohlfahrtspflege bis heute kennzeichnet.[3]

Nach der weitgefassten Beschränkung von Tätigkeitsfeldern und Kompetenzen durch die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt ab 1933, welche der Caritasverband der Erzdiözese München und Freising sowie die weiteren Caritasverbände im Vergleich zu anderen Spitzenverbänden aber vergleichsweise unversehrt überstand, wurde das duale System nach Kriegsende wiederbelebt und an die neuen politischen Rahmenbedingungen angepasst.[4] Das im Grundgesetz verbürgte Recht auf Religionsfreiheit schließt karitative Tätigkeiten mit ein und gewährt ein Selbstbestimmungsrecht, das vor allem bei der Sicherung des kirchlichen Charakters des Caritasverbands eine große Rolle spielt.[5] Die Vorrangstellung gegenüber den öffentlichen Trägern sowie die künftige Organisationsstruktur wurden im Bundessozialhilfegesetz von 1961 ausgearbeitet.[6] Darüber hinaus garantiert das staatliche Sozialrecht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Caritasverbänden die Selbständigkeit und freie Zielsetzung der eigenen Arbeits- und Organisationsstrukturen.[7]

In Artikel 32 des Einigungsvertrags wurde 1990 schließlich ein weiteres Mal die Bedeutung und Zuständigkeit der Freien Wohlfahrtsverbände im wiedervereinten Deutschland festgehalten und bekräftigt.[8] Die Auflösung traditioneller Sozialmilieus von den 1960ern an, der schwindende Einfluss der großen Konfessionen sowie die sich ändernde Rolle, die Freie Wohlfahrtsverbände im EU-System spielen, bezeichnen einige der wichtigen Trends, die für den Caritasverband seit den 1990ern maßgeblich sind.[9]

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[1] Zur Professionalisierung der freien Wohlfahrt vgl. Olk, Thomas u.a. Von der Wertegemeinschaft zum Dienstleistungsunternehmen: Oder: Über die Schwierigkeit, Solidarität zu organisieren, in: Rauschenbach, Thomas u.a. (Hg.). Von der Wertegemeinschaft zum Dienstleistungsunternehmen: Jugend- und Wohlfahrtsverbände im Umbruch. Frankfurt am Main 1995, S. 21. Zur Arbeit der Caritasverbände: Vgl. Maurer, Catherine. Der Caritasverband zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik: Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des caritativen Katholizismus in Deutschland. Freiburg 2008, S. 176.

[2] Vgl. Maurer 2008, S. 172.

[3] Vgl. ebd. 2008, S. 173. Darüber hinaus: Sachße, Christoph. Verein, Verband und Wohlfahrtsstaat: Entstehung und Entwicklung der "dualen" Wohlfahrtspflege, in: Rauschenbach, Thomas u.a. (Hg.). Von der Wertegemeinschaft zum Dienstleistungsunternehmen: Jugend- und Wohlfahrtsverbände im Umbruch. Frankfurt am Main 1995, S. 133 sowie Bauer, Rudolph. Wohlfahrtsverbände in der Bundesrepublik: Materialien und Analysen zu Organisation, Programmatik und Praxis. Weinheim und Basel 1978, S. 88 f. Auch:

[4] Vgl. Sachße 1995, S. 134 f.

[5] Vgl. Heise, Ansgar. Kirche - Caritas - Sozialstaat: Rechtlicher Aufriss eines komplexen Verhältnisses am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, in: Dal Toso, Giampietro/Schallenberg, Peter (Hg.). Der Mensch im Mittelpunkt: Die anthropologische Frage in Caritastheologie und Sozialethik. Paderborn 2016. S. 45 f.

[6] Vgl. Sachße 1995, S. 136.

[7] Vgl. Sydow, Gernot. Die Verfassung der Caritas: Perspektiven für den Rechtsrahmen diakonischen Handelns der katholischen Kirche, in: Kirche & Recht, Band 4. Berlin 2020, S. 13.

[8] Vgl. Olk u.s. 1995, S. 24.

[9] Vgl. Sachße 1995, S. 141 f.