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Italienische Gastarbeiter, ca. 1965, in einem Aufenthaltsraum am Münchner Hauptbahnhof. Nach ihrer Ankunft wurden die Neuankömmlinge von der Caritas und ihrer Bahnhofsmission unterstützt.  | © (Ingrid Grossart-Lockemann, Archiv des DiCV München und Freising e. V., Fotosammlung)

Mit dem Zug in die BRD

Erster Halt München Hbf – Die Caritas und die „Gastarbeiter“ in Westdeutschland

Mittwoch, 5 Uhr früh, der Sonderzug aus Istanbul fährt auf Gleis 11 am Münchner Hauptbahnhof ein. Mehr als 48 Stunden sind die Passagiere jetzt schon unterwegs. Am Bahnhof angekommen, werden sie in den Bunker unter Gleis 11 geführt. Nilgün Dikmen erinnert sich: „Ich war schockiert. Ich dachte Deutschland ist ein anderes Land, wie ein Paradies. Aber wir sind in den Bunker gekommen, hier haben 500 Leute aus allen Ländern, Türkei, Italien, Jugoslawien gewartet.“[1] Es war überfüllt, laut, ständig kamen Lautsprecherdurchsagen in unterschiedlichen Sprachen. Nach fünf Stunden wird sie abgeholt und kann in ein Siemens-Wohnheim einziehen. Die sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, die nicht in München bleiben, bekommen vom Diözesan-Caritasverband ein weiteres Verpflegungspaket: „eine Papiertüte, die zwei Semmeln, 80 Gramm Salami am Stück (für Türken ohne Schweinefleisch), eine Ecke Schmelzkäse, zwei Bananen, eine mittlere Packung Butterkekse und eine kleine Tafel Schokolade“.

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Arbeitsmigration ist kein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Beispielsweise waren bereits im späten 19. Jahrhundert viele Wanderarbeiter aus Italien nach Deutschland gekommen. Damals wie heute waren sie auf Unterstützung angewiesen. Im 19. Jahrhundert übernahm dies von katholischer Seite unter anderem das Italienische Arbeitersekretariat. Hier trat vor allem der Caritas-Gründer Lorenz Werthmann hervor.[1]

Mit dem Beginn des Wirtschaftswunders nach Ende des Zweiten Weltkriegs nahm die Arbeitsmigration neue Dimensionen an. 1955 schloss die Bundesregierung den ersten Anwerbevertrag mit Italien, der als Vorbild für spätere Verträge diente. Jetzt begann die eigentliche Geschichte der sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter im Nachkriegsdeutschland.[2] Der Caritasverband der Erzdiözese München und Freising e. V. beteiligte sich von Anfang an bei deren Betreuung und arbeitete mit katholischen Verbänden in Italien zusammen.[3]

Einmal in der Bundesrepublik angekommen – meist über die Verteilstelle im Bunker unter Gleis 11 am Münchner Hauptbahnhof – waren die Arbeiterinnen und Arbeiter häufig von der einheimischen Bevölkerung isoliert. Sie kamen in Baracken unter und es entstanden nach Herkunft getrennte Zentren. Das erste durch den Diözesan-Caritasverband betriebene Zentrum dieser Art in München war das Zentrum für spanische sogenannte Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, in der Landwehrstraße.[4] Neben Beratung gab es hier auch eine Reihe von Freizeitangeboten wie ein eigenes Lokal, einen Fernsehraum, einen Schachklub sowie eine kleine Bibliothek. Auch wurden Ausflüge ins Umland von München oder Besuche von Museen angeboten und ein deutsch-spanischer Stammtisch eingerichtet.[5] Ein Zentrum für die Italiener folgte 1968 in der Lindwurmstraße.[6] Mit weiteren Anwerbeabkommen entstanden weitere Zentren dieser Art: 1971 ein Zentrum für Menschen aus Kroatien in der Holzstraße, die mit ca. 30.000 Personen die inzwischen größte Gruppe an sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern im Raum München darstellten.[7] 1973 folgte ein Zentrum für Portugiesen in der Veit-Stoß-Straße.[8] Diese Zentren sollten auch dazu dienen , eine zu starke Konzentration von sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern in anderen Teilen der Stadt, vor allem am Hauptbahnhof, zu vermeiden.[9]

Neben dem Diözesan-Caritasverband waren noch die Diakonie und die Arbeiterwohlfahrt für die Betreuung der sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter zuständig. Die Zuordnung geschah nach Nationen, aber auch nach Religion: Die Caritas betreute vor allem die aus Italien, Spanien, Portugal und Kroatien stammenden Menschen, also diejenigen, die aus traditionell katholischen Gegenden kamen.[10] Im September 1970 befanden sich insgesamt über 106.000 sogenannte Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter im Gebiet der Erzdiözese München und Freising. Die meisten von ihnen, 38 Prozent, stammten aus dem ehemaligen Jugoslawien, gefolgt von Italien (21 %), Türkei (20 %) und Griechenland (18 %). Das Schlusslicht bildete Spanien mit nur 3 Prozent.[11]

Seit den 1970er-Jahren organisierte der Diözesan-Caritasverband zusammen mit den anderen Wohlfahrtsverbänden und dem städtischen Ausländerbeirat multikulturelle Freizeit- und Kulturangebote. Diözesan-Caritasdirektor Franz Sales Müller betonte dennoch 1971 mehrfach, dass die Wohlfahrtsverbände in der sogenannten Gastarbeiterbetreuung nicht allein gelassen werden dürften. Sowohl Wirtschaft als auch Kommunen, Stadt und Staat engagierten sich seiner Aussage nach deutlich zu wenig. Der Caritasverband der Erzdiözese München und Freising brachte zu dieser Zeit für die Unterstützung der sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter über 300.000 DM jährlich auf.[12]

Die ab 1955 abgeschlossenen Anwerbeabkommen wurden, ausgelöst durch die Ölkrise und die damit verbundene Energie- und Wirtschaftskrise, im November 1973 beendet. Die Bundesregierung verfügte ein Anwerbestopp für alle Anwerbestaaten außer Italien. Die Stadt München erließ 1975 für zwei Jahre eine Zuzugsperre.

Jetzt verlagerte sich die Arbeit der Wohlfahrtsverbände. Ursprünglich sollten die Menschen nur für wenige Jahre in Deutschland bleiben und dann in ihre Heimat zurückkehren. Viele wollten aber doch in Deutschland bleiben, heirateten oder holten ihre Familien in ihre neue Heimat. Aus einer kurzfristigen Arbeitsmigration war eine dauerhafte Einwanderung geworden. Für die Wohlfahrtsverbände und auch den Staat bedeutete dies, langfristige Angebote zu entwickeln.

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[1] Trincia, Luciano: Braune Söhne des Südens. Lorenz Werthmann, Geremia Bonomelli und die Anfänge der ltalienerfürsorge in Deutschland, in: v. Manderscheid, Michael u. Wollasch, Hans-Josef (Hrsg.): Die ersten hundert Jahre. Forschungsstand zur Caritas-Geschichte. Dokumentation eines Symposions der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes, Freiburg im Breisgau 1998, S. 35-55, hier S. 35; ebd., S. 39.

[2] Dunkel, Franziska; Stramaglia-Faggion, Gabriella: Zur Geschichte der Gastarbeiter in München. »Für 50 Mark einen Italiener«, hrsg. v. Kulturreferat der Landeshauptstadt München, München 2000, S. 9.

[3] Dunkel/Stramaglia-Faggion, S. 189.

[4] Dunkel/Stramaglia-Faggion, S. 190.

[5] Dunkel/Stramaglia-Faggion, S. 190 f.

[6] Dunkel/Stramaglia-Faggion, S. 190 f.

[7] Archiv des Caritasverbands der Erzdiözese München und Freising e. V., II/ZTR-EINGL/2 45, Ausländer brauchen Hilfe zur Selbsthilfe. Echte Partnerschaft bei der Caritas. Neues Zentrum für Kroaten, Caritas-Informationsdienst 76, 16. April 1971, S. 6; Archiv des Caritasverbands der Erzdiözese München und Freising e. V., II/ZTR-EINGL/2 45, Zentrum für kroatische Gastarbeiter. Einweihung am 4. Juli. 30.000 Kroaten in München, Caritas-Informationsdienst 77, 07. Juni 1971, S. 6.

[8] Dunkel/Stramaglia-Faggion, S. 191.

[9] Archiv des Caritasverbands der Erzdiözese München und Freising e. V., Bauakten II/ZTR-BAU/1, Schreiben von Beckmann an Stadträtin Centa Hafenbrädl, 30. Juni 1966.

[10] Dunkel/Stramaglia-Faggion, S. 187.

[11] Archiv des Caritasverbands der Erzdiözese München und Freising e. V., II/ZTR-EINGL/2 45, Zahl der Gastarbeiter in der Diözese München-Freising, o.D.

[12] Archiv des Caritasverbands der Erzdiözese München und Freising e. V., II/ZTR-EINGL/2 45, Zentrum für kroatische Gastarbeiter. Einweihung am 4. Juli. 30000 Kroaten in München, Caritas-Informationsdienst 77, 07. Juni 1971, S. 6.