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Einblick in das „Marianum für Arbeiterinnen“, circa 1930. In der 1879 gegründeten Privatstiftung wurden 60 Frauen und Mädchen mit „körperlichen Gebrechen“ aufgenommen und in Handarbeiten unterrichtet, um ihnen eine Lebensgrundlage zu geben.  | © (Fotograf unbekannt, Archiv des DiCV der Erzdiözese München und Freising e. V., Fotosammlung)

„Nützliche Beschäftigung“

Die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen im Gründungsjahrzehnt 1922–1933

Wenn die Ordensschwestern nach einem langen Arbeitstag das Essen auf den Tisch bringen, herrscht reges Treiben auf den Gängen. Aus allen Bereichen der Einrichtung strömen Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung in den Speiseraum, um das gemeinsame Abendbrot einzunehmen. Am Ende der Tafel hängt ein Kruzifix, das über die Gemeinschaft wacht. Zwischen den Stuhlreihen sind Ordensschwestern damit beschäftigt, die Heimbewohner und Heimbewohnerinnen zu versorgen, unter denen lebendige Gesprächigkeit herrscht.

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Menschen mit geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen sahen sich in der Weimarer Republik starken Vorurteilen ausgesetzt. Im medizinischen Fachdiskurs des 19. Jahrhunderts wurden körperliche Einschränkungen als „Defekt“ gedeutet. Betroffene Personen wurden medizinisch als „verkrüppelt“, „missgebildet“ oder „idiotisch“ bezeichnet. Sie galten im Zuge einer bürgerlichen Sozialethik als gesellschaftliches Problem. Die abwertenden medizinischen Diagnosen wurden auch im öffentlichen Diskurs verwendet. Es ist rückblickend schwierig zu entscheiden, inwieweit diese Wortwahl als Teil des normalen Sprachgebrauchs empfunden wurde oder eine bewusste Herabwürdigung darstellte. 1931 beschrieb etwa der Diözesan-Caritasverband in einer Publikation die Bewohner der Pflegeanstalt Attl in Wasserburg am Inn u.a. als „Blöde, Schwachsinnige, Kretinen und andere Unheilbare.“[1]

Ihre Beeinträchtigungen machten die Menschen zu Forschungsobjekten und zum Ziel von Therapie- und Präventionsversuchen. Sie sollten weitestgehend an die bürgerlichen und kapitalistischen Ideale einer industrialisierten Gesellschaft herangeführt werden. Ebenso wie bei anderen Personen bildeten ihre Leistungsfähigkeit und ihre Produktivität entscheidende gesellschaftliche Beurteilungsparameter.[2]

1931 waren vier Heime für „körperlich und geistig Gebrechliche“ im Diözesan-Caritasverband organisiert.[3] Eine strikte Trennung nach Einschränkung gab es nicht. In der „Kretinenanstalt“ Ecksberg etwa gab es drei Abteilungen. Die Heilabteilung war für „solche Kranke“ vorgesehen, „die wieder geheilt werden können und als brauchbare Menschen entlassen werden.“ Hier wird das Bild von eingeschränkten Personen, die auf ihrem Weg zu leistungsfähigen Menschen unterstützt werden müssen, deutlich. In der Beschäftigungsabteilung war Platz für Personen, die „zwar mithelfen und beschäftigt werden“ konnten, die aber in der Beurteilung anderer nicht in der Lage waren, außerhalb der Einrichtung ein eigenes Leben zu führen. Die Pflegeabteilung kümmerte sich um unheilbar kranke oder um dauerhaft auf Hilfe angewiesene Personen.[4]

Im Norden von München lag die auch heute bekannte Assoziationsanstalt Schönbrunn, heute das Franziskuswerk Schönbrunn. Die Gründung reicht bis in das Jahr 1861 zurück, als Gräfin Viktorine von Butler-Haimhausen den Verein „Assoziation der Diener und Dienerinnen der göttlichen Vorsehung“ gründete. Er sollte sich für „Geistesschwache, Epileptiker, Schwachsinnige, Krüppel, Blinde und gebrechliche Menschen jeden Alters und Geschlechts“ einsetzen. Zunächst begann das Projekt mit sechs Schwestern und 18 Pfleglingen in Haimhausen, 1862 kaufte Gräfin Viktorine das ehemalige Schloss Schönbrunn und brachte die Assoziationsanstalt dort unter. In den folgenden Jahren wurde sie mehrmals vergrößert, 1931 waren 970 Personen, eingeteilt in sogenannte „Familien“, hier untergebracht. Das pädagogische Konzept beruhte auf Beschäftigung der Pfleglinge. Deshalb gehörte eine Volks- und Fortbildungsschule zur Anstalt. Die Erwachsenen gingen neben landwirtschaftlichen Tätigkeiten auch handwerklichen Berufen nach, etwa der Schneiderei, der Bäckerei oder der Buchbinderei. Die weiblichen Pfleglinge erhielten Aufgaben in „weiblichen Handarbeiten“.[5]

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[1] Bösl, Elsbeth: Die Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik aus Sicht der Disability History, in: APuZ, 23/2010, S. 6-12, hier: S. 6. Pflegeanstalt Attel, in: Caritasverband München (Hrsg.): Die katholische Anstaltsfürsorge in der Erzdiözese München Freising, München 1931, S. 27-31, hier: S. 27-28.

[2] Bösl, S. 6.

[3] Die Pflegeanstalten waren die Pflegeanstalt Attel, die Kretinenanstalt in Ecksberg, das Marianum für Arbeiterinnen in München und die Assoziationsanstalt in Schönbrunn, vgl.: Caritasverband München (Hrsg.), S. 27-31.

[4] Caritasverband München (Hrsg.), S. 28.

[5] Caritasverband München (Hrsg.), S. 29.