Kontakt
Die Hl. Elisabeth von Thüringen als Vorbild für die Caritas-Arbeit. Holzschnitt, o.D., auf dem Titelblatt eines Vortragsmanuskripts anlässlich des Elisabethentags am 12.11.1981. – Dieser Tag ist auch allen ehrenamtlichen Mitarbeitenden der Caritas gewidmet. | © (Archiv des DiCV München und Freising e.V.)

Mit Kirche? Ohne Kirche?

Die Entstehung der neuen privaten Fürsorge

Das 19. Jahrhundert bringt in den Köpfen vieler Menschen, was Armut angeht, einen Sinneswandel mit sich: alte Traditionen und Gesinnungen werden wiederentdeckt. Der Arme wird nicht mehr als einsames, isoliertes Individuum gesehen, sondern als ein existenziell auf die Gemeinschaft angewiesenes Wesen – die romantische Bewegung aus der Mitte des Jahrhunderts hinterlässt hier ihre Spuren.[1] „Armut“ wird neu definiert und ist nicht länger unveränderlicher Bestandteil einer göttlichen Ordnung, sondern eine systemische Störung – ein Fehler, dem man mit Gegenmaßnahmen begegnen kann und muss.[2] Aus diesen Gedanken heraus entstehen nun zahlreiche neue Vereine, Ordensgesellschaften und Anstalten zur öffentlichen Fürsorge.

------------

[1] Vgl. Eder, Manfred: Helfen macht nicht ärmer. Von der kirchlichen Armenfürsorge zur modernen Caritas. Altötting 1997, S. 66.

[2] Vgl. Maurer, Catherine: Der Caritasverband zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik: Zur Sozial- und Mentalistätsgeschichte des caritativen Katholizismus in Deutschland. Freiburg im Breisgau 2008, S. 43 f.

------------

In der ersten Hälfte des Jahrhunderts sorgte der bayerische Staatsreformer Montgelas für eine staatliche Zentralisierung der Kranken- und Armenpflege, mitunter indem das gewachsene, meist unwirtschaftlich arbeitende soziale Stiftungswesen den Kirchen und Kommunen entzogen wurde. Zwar war das bisherige Fürsorgewesen nun weitgehend zerstört, aber es waren auch die Bedingungen für die dringend nötige Mobilität und das großräumige Denken entstanden, die einen Aufbau neuer Strukturen  möglich machten. Neue Impulse suchten das entstandene Vakuum zu füllen und den negativen sozialen Folgen der Industrialisierung und dem Bevölkerungswachstum in der Armenfürsorge zu begegnen.[1] Die Anstöße dafür kamen nicht vom Klerus, sondern von Privatinitiativen. Frühe Formen der organisierten Unterstützung jenseits kirchlicher Strukturen waren „Caritas-Kreise“, meist ein Zusammenschluss privater Bekanntschaften und Freunde, die zu Spenden aufriefen oder  Suppenküchen organisierten.[2]

Mit am folgenreichsten für die organisierte Caritas sollten sich die auf die Vorbilder der Heiligen Vinzenz von Paul (1581-1660) und Elisabeth von Thüringen (1207-1231) stützenden Vinzenz- und Elisabethenvereine erweisen. Neben anderen beriefen sich vor allem auch diese beiden Organisationen auf den „unvergänglichen Wert der Caritas als Gesinnung, Tat und Institution“[3]. Von Frankreich ausgehend, breitete sich die Idee der sogenannten Vinzenzkonferenzen rasch aus, und bereits 1845 wurde in der Pfarrei St. Ludwig in München die erste Vinzenzkonferenz auf deutschem Boden gegründet. Unterstützt wurden zunächst „Hausarme“ und Kranke, später eine ganze Reihe verschiedenster Notleidender. Einer der Schwerpunkte lag vor allem auch in der Kinder- und Jugendfürsorge. Sehr ähnlich funktionierte das weibliche Pendant, die Elisabethenvereine (in München seit 1842). Diese arbeiteten von Anfang an jedoch stark mit der Kirche zusammen und versahen sich so der Unterstützung der Pfarrgeistlichkeit.[4]

Aber auch die katholische Kirche organisierte sich neu. Bereits ab den 1860ern wurde auf den jährlichen Katholikentagen die Soziale Frage diskutiert, und wie man die negativen Auswüchse des Kapitalismus bekämpfen könnte.[5] Die Fuldaer Bischofskonferenz von 1869 fasste eine Neuinterpretation der kirchlichen Caritas zusammen: weg von einem rein auf Almosen ausgerichteten Konzept, und weniger Ausruhen auf der Arbeit der Barmherzigen Schwestern und dem Engagement von Laien.[6] Die Kirche verlagerte ihre Hilfe von der materiellen zur personellen Ebene und unterstützte neben der eigenen weiterhin gepflegten Almosen- und Essensverteilung auch die eigenständige Initiative zur katholischen Caritas.[7]Arbeiteten die daraus entstandenen karitativen Organisationen zunächst noch unabhängig voneinander, sollte sich dies nach der Überwindung des Kulturkampfes langsam ändern. Es kam zu übergreifenden Verbandsgründungen, um die eigenen Interessen gegenüber Dritten wirkungsvoll durchsetzen zu können. Dies war nicht zuletzt motiviert durch die von Papst Leo XIII. im Jahr 1891 herausgegebene, gegen Sozialismus und Liberalismus gerichtete Sozialenzyklika „Rerum novarum“.

Mit der Gründung der Inneren Mission 1848 lag die evangelische Kirche im Trend und war Ansporn für die lang diskutierenden Katholiken: Lorenz Werthmann sollte es schließlich 1897 gelingen, mit seinem „Charitas-Verband für das katholische Deutschland“ eine Koordination auf nationaler Ebene entstehen zu lassen.[8]

Zum Ende des Jahrhunderts bildete sich schließlich die bis heute gültige Doppelstruktur des deutschen Wohlfahrtsstaates heraus: die materiell versorgende Sozialversicherung von staatlicher Seite neben den kommunalen sozialen Diensten der Fürsorge.[9] Die Weichen für die Gründung zunächst des Münchner Caritasverbands und des Diözesan-Caritasverbands in der Folge waren gestellt.

------------

[1] Vgl. Eder, Manfred: Helfen macht nicht ärmer. Von der kirchlichen Armenfürsorge zur modernen Caritas. Altötting 1997, S. 62 f.

[2] Vgl. ebd. 1997, S. 73.

[3] Vgl. ebd., 1997, S. 66.

[4] Vgl. ebd., 1997, S. 235 f.

[5] Vgl. Frerk, Carsten: Caritas und Diakonie in Deutschland. Aschaffenburg 2012, S. 131.

[6] Vgl. Maurer 2008, S. 33 f.

[7] Vgl. Eder 1997, S. 350 f.

[8] Vgl. Eder 1997, S. 358 f.

[9] Vgl. Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian. Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Band 2: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871 bis 1929. Stuttgart 1988, S. 15.