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Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der Suchtkrankenhilfe: Dr. Stemplinger, Johann Mitterer und Hans Windgassen feiern ihren 70. Geburtstag. V.l.n.r.: Elisabeth Mehler (Fürsorgerin); Sr. Hiltraut (Hiltraut Butzer, Leitung Kindererholung); Johann Mitterer (ehrenamtl. Mitarbeiter); Dr. Felix Stemplinger (Obermedizinalrat); Prälat Oskar Jandl (1.Vorsitzender des Diözesan-Caritasverbands); Hans Windgassen (Leiter Kreuzbund); Walter Flach (Leitung Psychologische Beratungs- und Behandlungsstelle bis 1985); Benno Welscher (Mitglied Kreuzbund), 1966, | © x(Fotograf unbekannt, Archiv des DiCV München und Freising e. V., Fotosammlung)

Fürsorge für alkoholkranke Menschen

Die „Trinkerfürsorgestelle“ des Caritasverbands der Erzdiözese München und Freising e. V.

Durch die in den 1920er Jahren herrschende große Arbeitslosigkeit nahm die Zahl der mit Alkohol in Verbindung stehenden Suchterkrankungen auch im deutschen Raum erheblich zu. 1927 begann der Diözesan-Caritasverband in Zusammenarbeit mit dem bereits seit 1904 in München aktiven Kreuzbund[1] mit dem Aufbau einer Fürsorgestelle.[2] Ziel war es, Betroffenen und deren Angehörigen eine Anlauf- und Hilfestelle zu bieten.[3] Bereits im Gründungsjahr 1928 wurden über 500 Personen beraten.[4] Die Arbeit in der Einrichtung übernahmen zwei Mitglieder des Ordens der Schwestern von der Heiligen Familie.[5] Geleitet wurde die Einrichtung von Anna Hierstetter, auch bekannt als Schwester Paula von der Heiligen Familie.[6] Dem Grundsatz ihres Ordens nach führte sie die Trinkerfürsorge im Dienst an den Familien – ihr lag das ganzheitliche Wohl der alkoholkranken Menschen am Herzen. Jeden Samstag- und Sonntagnachmittag versammelte sie auf dem Waldplatz in Obersendling, einem Freizeitplatz für Betroffene und deren Familien im Südwesten Münchens, alkoholkranke Personen um sich. Dort bewirtete sie die versammelten Menschen mit alkoholfreien Getränken, sorgte für eine abwechslungsreiche Freizeitgestaltung und hatte stets ein offenes Ohr für Ratsuchende. Bald war Schwester Paulas Expertise auch in anderen Städten wie Augsburg, Landshut und Ingolstadt gefragt, wo sie half, ähnliche Konzepte einer Trinkerfürsorge wie das ihres Waldplatzes umzusetzen.[7]

Der Siegeszug der Nationalsozialisten hatte weitreichende Konsequenzen für die Trinkerfürsorge. Menschen mit Alkoholerkrankung hatten bereits vor 1933 mit staatlichen Repressalien und gesellschaftlicher Stigmatisierung zu rechnen. Mit der NS-Machtübernahme begann jedoch eine Phase der besonderen Ächtung und Verfolgung. Mutmaßlich „erbkranke“ Trinker wurden von den öffentlichen Wohlfahrtsbehörden erfasst und es wurden Sterilisationsanzeigen vorgenommen.[8] Straffällig gewordene „Trinker“ konnten ab 1933 nach Verbüßung einer Haftstrafe bis zu zwei Jahre in eine Trinkerheilanstalt eingewiesen werden.[9] Zudem wurden unter den Nationalsozialisten alkoholabhängige Menschen, gemeinsam mit anderen stigmatisierten Gruppen, als sogenannte „Asoziale“ staatlich verfolgt, vor allem wenn sie arbeits- und wohnungslos waren. Auch auf dem Gebiet der Erzdiözese München und Freising kam es zu organisierten Massenverhaftungen, die in der Einweisung der Betroffenen in Arbeitshäuser und Konzentrationslager resultierten.[10]

Insgesamt waren die Trinkerfürsorgestellen der Caritasverbände nach 1933 in die Umsetzung der erwähnten eugenischen und repressiven NS-Gesetze institutionell mit eingebunden. Die Einrichtungen, die ja die Alkoholkranken in Karteien namentlich erfassten, waren zur Anzeige „erbkranker Alkoholiker“ bei den Behörden aufgefordert. Jedoch waren katholische Pfarrämter, Vereine und Caritas-Mitarbeiter bei der „Früherfassung“ von Alkoholkranken deutlich zurückhaltender als erwartet wurde.[11] In München arbeitete die Caritas-Beratungsstelle für Alkoholkranke im ambulanten Rahmen weiter, sie beriet ihre Klientinnen und Klienten, versuchte aber zugleich die Zusammenarbeit mit den kommunalen Behörden und weiteren Stellen, die als Verfolgungsinstanzen agierten, sukzessive zurückzufahren und eine Überweisung in Anstalten zu vermeiden.[12]

In der Nachkriegszeit setzte die Trinkerfürsorge der Caritas ihre Arbeit fort. Das Handlungsfeld erweiterte sich und die ehemalige Trinkerfürsorge war bald unter der Bezeichnung „Suchtkrankenhilfe“ bekannt.[13] Heute ist die psychosoziale Beratungsstelle für Suchtkranke nach wie vor eine wichtige Anlaufstelle für hilfesuchende, alkoholkranke Menschen und deren Angehörige.[14] Daneben bietet der Diözesan-Caritasverband mit seinen seit 1970 entstehenden Fachambulanzen ein vielfältiges Therapie- und Beratungsangebot in Fragen Alkohol, Medikamente, Drogen, Essstörungen, Nikotin und Spielsucht an.

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[1] Der „Kreuzbund“ wurde 1896 als „Kath. Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke“ gegründet und 1900 in „Kath. Kreuzbündnis“ umbenannt. Er vereinigte sich 1909 mit dem „Verein abstinenter Katholiken Deutschlands“. Seitdem nannte er sich „Kreuzbündnis - Verein abstinenter Katholiken“.

[2] Vgl.: Eder, Manfred: Helfen macht nicht ärmer. Von der kirchlichen Armenfürsorge zur modernen Caritas. Altötting 1997, S. 420, hier v.a. FN 187; und: Rieger, Ernst, Die Geschichte des Kreuzbundes in München, in: 100 Jahre Kreuzbund München, München 2004, S. 10-18.

[3] Vgl.: Archiv des Caritasverbands der Erzdiözese München und Freising e. V., AR 922, Schriften der Caritasbibliothek zur Alkoholfrage 1911-1941, „Von der Trinkerfürsorge zur psychosozialen Beratung, in: Münchner Stadtanzeiger, 19.7.1990.

[4] Vgl.: ebd., AR 507, Tätigkeitsbericht der Fürsorgestelle für Alkoholkranke des kath. Caritasverbandes der Erzdiözese München-Freising.

[5] Vgl.: Not sehen und handeln. Caritas 1922-1997. München 1997, S. 36.

[6] Vgl.: 50 Jahre Caritasverband München. 1922-1972. München 1972, S. 70.

[7] Vgl.: Schwester Paula von der Heiligen Familie. Anna Hierstetter (1891-1956), auf: Familienschwestern München: Pionierinnen: Schwester Paula Hierstetter, https://www.familienschwestern-muenchen.de, letzter Zugriff 15. Februar 2022.

[8] Vgl.: Sachße, Christoph/ Tennstedt, Florian: Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus. (= Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland; Bd. 3), Stuttgart 1992, S. 101 f.

[9] Reimer, Klaus: Von der katholischen Armenfürsorge zum Unternehmen Nächstenliebe. Geschichte des Caritasverbandes Frankfurts. Ein Beitrag zur Frankfurter Sozialgeschichte, Göttingen 2019, S. 347; Hauschildt, Elke: „Auf den richtigen Weg zwingen…“ Trinkerfürsorge 1922 bis 1945, Freiburg im Breisgau 1995.

[10] Vgl. zu diesem Themenkomplex Ayaß, Wolfgang: „Asoziale“ im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995, für München: Brunner, Claudia: „Bettler, Schwindler, Psychopathen“. Die „Asozialen“-Politik des Münchner Wohlfahrtsamtes in den frühen Jahren der NS-Zeit (1933 bis 1936), München 1996 sowie Wimmer: Die völkische Ordnung der Armut.

[11] Hauschildt, Elke: „Auf den richtigen Weg zwingen…“ Trinkerfürsorge 1922 bis 1945, Freiburg im Breisgau 1995; https://www.diakonie.de/suchtkrankenhilfe, letzter Zugriff 15. Februar 2022.

[12] Wimmer: Die völkische Ordnung der Armut, S. 173 f.

[13] Vgl.: Caritas. Ein Report über die Caritas 70 in der Erzdiözese München und Freising. München o.D. und Caritasdienst 1990, S. 37.

[14] Vgl.: Suchtberatung, auf: https://www.caritas.de/glossare/suchtberatung, letzter Zugriff 15. Februar 2022; vgl.: Fachambulanz für erwachsene Suchtkranke, auf: https://www.caritas-nah-am-naechsten.de/fachambulanz-tvs-muenchen/fachambulanz-fuer-erwachsene-suchtkranke-muenchen, letzter Zugriff 15. Februar 2022.

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